page9_1
Titelbild:
Studienrat Dr. Keym
auf dem Weg zur Schule zwischen den Trümmern an der Greiffenklaustraße

Foto: Hermann Roth


Aus Otfried Müllers Beitrag
das Kapitel
Turbulente Tage zu Kriegsende

Im März 1945 schickte mein Vater meine Mutter, die Großmutter und mich zusammen mit Gilbert, unserem französischen Kriegsgefangenen, in den Taunus nach Engenhahn. Mein Vater meinte, daß wir hier vor den ständigen Bombenangriffen sicher seien. Außerdem wollte er verhindern, daß ich zum Volkssturm eingezogen würde. Gilbert mußte ebenfalls verschwinden, weil er wegen seiner deutschen Freundin Probleme mit der Gestapo bekam.
Der Franzose und ich hatten uns ein Loch im Wald gegraben, einen Unterstand, um uns gegebenenfalls zu verstecken, wenn unser Führer nach uns Verlangen gehabt hatte. Später war das Loch mein Versteck für ein MG 42, welches ich gefunden hatte. Es ist dort verrostet. Die Fahrt mit dem LKW gestaltete sich recht abenteuerlich. Einer mußte immer auf der Ladefläche nach Tieffliegern Ausschau halten. Wenn welche kamen, aufs Dach klopfen, dann alle raus, in den Straßengraben oder sonstige Deckung aufsuchen.
In Engenhahn bezogen wir ein kleines Holzhaus – unser Domizil bis auf weiteres. Es lag ungefähr ein Kilometer vom Ort entfernt, auf einer Höhe am Waldrand. Am ersten Abend zog noch eine Kompanie Soldaten durch ’s Ort. Gott sei Dank zogen sie weiter, mußten aber alle Fahrzeuge stehen lassen, weil die Straßen ostwärts auf der Autobahn Idstein schon durch amerikanische Panzer besetzt waren. Wir waren in einem Kessel. In der Nacht kamen bei uns am Wald flüchtende deutsche Soldaten vorbei, die mich l4jährigen Bub fragten, wie sie unentdeckt durch die Blockade schlüpfen könnten. Da ich zu verstehen gab, daß ich mich auskannte, baten mich die 15 Mann sie zu führen. Sie schenkten mir eine Dauerwurst – und dann ging’s los durch den nächtlichen Wald. Ich vorne weg und hinter mir die Soldaten, teilweise bewaffnet. Ich zeigte den Schleichweg unter der Autobahn durch. Es war der Abwasserkanal.
Die Männer kamen durch und ich lief zurück ins Haus. Dort erfuhr ich, daß inzwischen die Leute aus dem Dorf deren zurückgelassenen Militärfahrzeuge geplündert hatten. Es gab Kaffee, Mehl, Zucker, Wolldecken, Schuhe, alles was damals das Herz begehrte. Als ich kam, fand ich nur noch Reste vor, die uninteressant waren. Ich ging sehr enttäuscht ins Bett.
Am nächsten Morgen weckte mich meine Mutter und sagte: »Über ’s Feld, auf der Zufahrtsstraße sind wieder Autos angefahren.« Es war ungefähr 1,5 km bis dorthin. Mein Entschluß war schnell gefaßt: Bevor die aus dem Dorf kommen, will ich der erste beim Ausräumen sein. Ich sagte zu meiner Mutter: »Komm’ schnell mit dem Leiterwägelchen über den Feldweg nach, ich laufe schon mal quer übers Feld.« Ich kam näher an die Soldaten heran und sah, daß die Autos weiße Sterne hatten. Ich dachte, das sind Weißrussen, die auf unserer Seite kämpfen. Dann hörte ich englische Worte. Blitzschnell riß die ich die Arme hoch und fragte: »Are you Americans?« und sie sagten: »Yes.« Darauf rief ich : »I surrender«, so wie ich es auf den Flugblättern gelesen hatte und ging zu den Amis. Stolz war ich, daß ich mit meinen drei Jahren Englisch gut zu recht kam. Englischlehrer, Dr. Hartleb, hätte mir glatt eine bessere Note gegeben. Plötzlich fing ein MG an zu schießen. Alle Soldaten sprangen in den Straßengraben, ich auch. Nach kurzer Schießerei setzten die Amis den Vormarsch auf Engenhahn fort. Direkt hinter den Amerikanern liefen zwei Deutsche, die die und die Zigarettenkippen aufhoben.
Ein Offizier forderte mich auf, ein Stück zurück auf der Straße zu laufen, um aus dem Kampfgeschehen herauszukommen. Rechts und links von mir marschierten die Soldaten nach vorne, ich in der Mitte zurück. Ein G.I. fragte mich, ob ich mit einer weißen Fahne zu den versteckten deutsche Soldaten gehen wollte, um sie zur Kapitulation aufzufordem. Dazu kam es nicht. Es knallte wieder aus allen Richtungen. Die Deutschen liefen weg. Als ich hinter einem Baumstumpf hoch schaute, war alles vorbei. Oben auf der Höhe fragte mich ein Sanitäter, ob ich auf dem Jeep ins Dorf fahren wollte. Das machte ich auch und bin so mit den Amis ins Ort fahrend einmarschiert. Sie schenkten mir Kaugummi, für uns vollkommen unbekannt, Schokolade und Zigaretten. Dann ging ich zu den »Dörflern«, um zu erklären, wie ich zu den Amis gelangt war.
Jetzt wollte ich aber schnell auf den Berg zu meiner Mutter, denn sie hat sich Sorgen gemacht, ob mir bei der Schießerei etwas passiert sei. Plötzlich riefen zwei Amerikaner, Gewehr im Anschlag: »Stop!« Noch während ich wieder: »I surrender« sagen konnte, nahmen sie mich mit zu den deutsche Gefangenen. Nun kamen mir die Tränen, was mir nun alles blühen könnte? Ins Gefangenenlager gebracht zu werden … Ich hatte Glück. Der Offizier, der mich am Anfang angesprochen hatte, sagte zu den Soldaten: »This guy is okay, let him go.« Mein Gott, war ich froh.
Ich ging erleichtert den Berg hoch zu unserem Häuschen. Aber hier erwartete mich die nächste Überraschung. Im Garten saßen zehn deutsche Soldaten und wollten wissen, wie sie noch durchkämen. Ich sah keine Chance mehr, ihnen zu helfen und empfahl, sich im Dorf den Amis zu ergeben. Darauf nahmen sie ihre Rucksäcke, holten ein paar Flaschen Schnaps heraus, tranken sie aus und gingen recht feucht-fröhlich, eine weiße Fahne schwenkend, runter ins Dorf, in Gefangenschaft.
Die deutschen Soldaten hatten ihre Gewehre in unserem Schuppen zurückgelassen. Ich hatte Angst wegen Waffenbesitzes in Schwierigkeiten zu kommen. Ich ging während der Ausgehzeit (2x 1 Std. am Tag) ins Dorf zum Captain und sagte ihm, daß man die Waffen holen sollte. Kurz darauf kamen die Amis und zerschlugen alle Waffen. Einen Karabiner hatte ich mir vorher im Wald unter einem Holzstoß versteckt. Mit diesem bin ich dann später mit meinem Freund Rudi, leider erfolglos, zum Wildern gewesen. Die Amis kamen täglich zur Hausdurchsuchung. Sie nahmen meine von den deutschen Soldaten organisierten Ferngläser mit. Außerdem fanden sie plötzlich im Schuppen eine Pistole, die ich vorher nicht gesehen hatte. Ich wurde sofort festgenommen. Mir war verdammt mulmig, aber ich verlangte nach dem Captain, der per walkie-talkie geholt wurde. Er ließ mich frei, denn ich hatte die Waffen ja zur Vernichtung gemeldet und die Amerikaner hatten die Pistole anscheinend bei der ersten Durchsuchung übersehen. Schade, daß ich sie nicht gefunden habe, denn ich hätte sie gegen zwei Stangen Zigaretten eintauschen können – ein Vermögen damals.
Wir mußten das Wasser am nahe gelegenen Wasserwerk mit einem Faß holen. Wir besaßen einen Schlüssel zum Wasserreservoir. Dieser Schlüssel wurde uns von den Amis abgenommen, aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Wenn wir Wasser brauchten, mußten wir das beim Captain melden. Er schickte zwei bewaffnete Soldaten, die mich zum Wasserwerk begleiteten. Ich füllte das Faß und fuhr mit dem Leiterwägelchen zurück zum Haus.
Die Amis waren schon seit einigen Tagen da. Abends waren wir im Haus, da geschah folgendes: Gilbert, unser französischer Kriegsgefangene, ging zum Plumpsklo draußen im Garten. Meine Großmutter, die Mutter und ich saßen bei Kerzenlicht und lasen. Die Tor ging auf, keiner schaute auf, denn wir dachten, Gilbert käme zurück. Plötzlich, ein Ruf: »Sind Amis hier?« Wir schauten in einen Revolverlauf, vor uns ein deutscher Soldat, der auf der Flucht war. Im selben Moment stand der Franzose hinter ihm. Alle waren überrascht, aber durch die ruhige Stimme meiner Großmutter entspannte sich die Lage. Wir gaben dem Flüchtenden zu essen und zu trinken. Der französische Gefangene drehte ihm eine Zigarette, dann schlief der deutsche Soldat erschöpft ein. Wir wollten ihn unbedingt noch nachts loswerden, denn morgens kamen immer noch die Amis zur Hausdurchsuchung. Er verließ uns gegen morgen. Ich zeigte ihm den Weg, auf dem er um unentdeckt die Amerikaner passierte.
Am nächsten Morgen kamen unsere Ami-Truppen aus dem Dorf wieder zur Hausdurchsuchung. Dieses Mal war der Küchenschrank zur Durchsuchung dran. Da fiel mir plötzlich ein, daß in einer der Kaffeetassen ein paar 98K-Patronen lagen. Meine Oma, geistesgegenwärtig, steckte sie in die Schürzentasche und ging in den Garten, um ein Beet umzugraben und zu säen. Dabei säte sie gleich die Patronen mit ein.
Später kamen französische Widerstandskämpfer vorbei, die verständlicherweise nicht nett zu den Deutschen waren. Wir hatten Glück, weil »unser« Gilbert, für den wir immer gut gesorgt hatten, bei uns war.